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Titel
History Within. The Science, Culture, and Politics of Bones, Organisms, and Molecules


Autor(en)
Sommer, Marianne
Erschienen
Chicago 2016: University of Chicago Press
von
Tanja Hammel, Historisches Seminar, Universität Zürich

Marianne Sommers ideengeschichtliche Studie über die wissenschaftliche Erforschung dessen, was es im 20. Jahrhundert hiess, Mensch zu sein, hat international bereits eine ausserordentlich positive Rezeption erfahren.1 Leser*innen, die sich für Wissen(schafts)geschichte, die Geschichte der Biologie, Anthropologie, Paläontologie, die Ideen-, Sozial- und Kulturgeschichte sowie die Biografieforschung interessieren, sei sie hier erneut wärmstens empfohlen. Die Autorin nimmt uns mit auf eine spannende Reise durch die hundertjährige Geschichte der Paläanthropologie, der Evolutionsbiologie sowie der Bevölkerungsgenetik. Die drei Teile des Buches sind jeweils einem Forscher gewidmet: dem amerikanischen Paläontologe Henry Fairfield Osborn (1857–1935), dem britischen Biologen Julian Huxley (1887–1975) und dem italienischen Genetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza (1922–2018). Diese Gliederung erlaubt es, in die sozialen, kulturellen und institutionellen Kontexte der Protagonisten sowie deren Forschungsmöglichkeiten und -praktiken einzutauchen. Alle drei suchten mit ihrer Forschung über die Vergangenheit die Fragen ihrer jeweiligen Gegenwart zu beantworten und kommunizierten ihre Ergebnisse an ein breites Publikum.

Nach seiner Ausbildung an Elite-Universitäten war Osborn Präsident des New Yorker American Museum of Natural History (1908–1933) geworden und gehörte zur Elite New Yorks. Seine Arbeiten zur Wirbeltier-Paläontologie und Paläanthropologie nutzte er, um die etablierten Hierarchien insbesondere von race und gender zu legitimieren. Huxley, der Enkel von «Darwin’s Bulldog», war ein öffentlicher Intellektueller, Bestsellerautor (Evolution: The Modern Synthesis, 1942), Sekretär der Zoological Society of London, erster Direktor der UNESCO sowie Kämpfer für einen evolutionary oder scientific humanism. Bekannt ist er für seine Mitarbeit am ersten UN «Statement on Race» (The Race Question), in dem er Rasse als soziale und nicht als biologische Kategorie definierte. Der umtriebige Liberale war jedoch von der Überlegenheit der Euro-Amerikaner*innen überzeugt und sah sie dazu bestimmt, die Weltbevölkerung und deren Umwelt zu schützen. Mit dem Pan-Humanisten Cavalli-Sforza rücken die molekulare Perspektive in der Biologie und Anthropologie, die Molekulargenetik, big data und kommerzielle Nutzungen ins Zentrum des Interesseses, da diese neuen Zugangsweisen neue Narrative über die tiefe menschliche Vergangenheit eröffnen.

History within ist weder eine Sammelbiografie noch eine Biografie der Erforschung des Menschseins. Vielmehr dienen Sommer ihre drei Protagonisten als «Linse», um die Diskurse und Forschungstechniken der jeweiligen Zeit für diese gut recherchierte, dichte Gebrauchsgeschichte zu beschreiben. Die Autorin nimmt die Ideen der drei Wissenschaftler ernst und kontextualisiert sie innerhalb ihrer jeweiligen Netzwerke und institutionellen Verankerungen. Dafür analysiert sie eine beeindruckende Vielfalt an Quellen, die von Kinderbüchern, Dioramen, Karikaturen, elektronischen Karten, auf denen die globale Genmigration verzeichnet ist, bis zu Daten von Firmen, die Genome dekodieren, reicht. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Protagonisten sowie die Entwicklungen ihrer politischen und sozialen Programme sind sehr schön herausgearbeitet, ohne dass das Narrativ unter dem komparativen Ansatz leidet. Überhaupt schreibt Sommer sehr fesselnd: So animieren die gelungenen Übergänge zwischen den Kapiteln stets zum sofortigen Weiterlesen – bei englischsprachigen Publikationen von Historikerinnen aus dem deutschsprachigen Raum eine Seltenheit! Auch die Verwendung zahlreicher, auch längerer Quellenzitate mit dem Ziel, die Leserinnen in die jeweiligen Debatten der Zeit eintauchen zu lassen, überzeugt. Die oft illustrativ verwendeten Abbildungen sind leider in schlechter Qualität und oft zu klein reproduziert, was aber eine bewusste Entscheidung der Autorin und des Verlags zu sein scheint, um die detaillierten und teils atmosphärischen Beschreibungen Sommers in den Fokus zu rücken.

Sommer verspricht in der Einleitung, History within sei kein «return to the histories of ‘great [white] men and great ideas’» (S. 2). Frauen kommen dennoch als historische Akteurinnen kaum zur Sprache. Nur beiläufig finden die Ehefrauen (S. 74, S. 106, S. 141), Kinderbuchautorinnen, die das Wissen der Wissenschaftler popularisieren (S. 109, S. 112, S. 113, S. 114) und wenige Wissenschaftlerinnen (z. B. S. 271–275) Erwähnung. Wie haben Frauen die Arbeiten (beispielsweise des misogynen Osborn) rezipiert? Welchen Einfluss hatten Frauen auf die Wissensproduktion der Protagonisten und was gab es für Wissenschaftlerinnen auf ihren jeweiligen Gebieten?2 In der Bibliografie beläuft sich das Verhältnis von Frauen zu Männern auf 95 zu 372.3 Wissenschaftler aus dem globalen Süden könnten auch präsenter sein. Im Sinne von Hayden Whites progressive history – «a history that is born of a concern for the future, […], that goes to the past in order to find intimations of resources, intellectual, emotional, and spiritual, that might be useful for dealing with these concerns […] to […] find out what it takes to face a culture we should like to inherit rather than one that we have been forced to endure»4 – wünsche ich mir eine Neuauflage dieses grossartigen Werks. Eine Neuauflage, die eine grössere Anzahl Protagonist*innen einschliesst, die nicht nur die Vielfalt des Menschseins an sich, sondern auch dessen Erforschung widerspiegeln. Damit könnten «die Geschichten, die wir über Knochen, Organismen und Moleküle erzählen» sowie deren historische Aufarbeitung tatsächlich unsere Sichtweise auf ‘Wissenschaft’ und damit auch auf «die Welt verändern (vgl. Klappentext).

1 Vgl. z. B. John Durant, Isis 109/2 (2018), S. 421–422; Chris Manias, British Journal for the History of Science 50/2 (2017), S. 359–360; Chris Renwick, https://www.histhum.com/book-reviewhistory- within-the-science-culture-and-politics-of-bones-organisms-and-molecules/ (22. 3. 2017; 16. 7. 2019).
2 Paläontologinnen: z. B. Mary Anning (1799–1847), Annie Montague Alexander (1867–1950), https://thebeardedladyproject.com, (16. 7.2019).
3 Ohne Publikationen, die von einem Mann und einer Frau gemeinsam herausgegeben wurden.
4 Ewa Domanska, A Conversation with Hayden White, in: Rethinking History, The Journal of Theory and Practice 12/1 (2008), S. 18–19.

Zitierweise:
Tanja Hammel: Marianne Sommer: History Within. The Science, Culture, and Politics of Bones, Organisms, and Molecules, Chicago: Chicago University Press, 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 473-475

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 473-475

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